Dr. Faust Reloaded (2015)

 
Doktor Faust Reloaded, aka DFR3000.

Nachdem ich meine Dichterphase 2004 mit einem unvollständigen Doktor Faust Reloaded beendete, zog mich die Materie im Jahr 2015 erneut in den Bann. Es entstand ein ein namentlich gleiches Werk, welches ich als Buch geplant hätte.

Doktor Faust Reloaded (auch nur DFR oder Doktor Faust 3000 genannt) wurde am 19. September 2015 begonnen aber nach einem guten Run von drei oder vier Akten nicht mehr weitergeführt.

Es sollte nicht vor 2021 und der Aufsplittung der einstigen Nihilumchroniken sein, ehe ich den dritten und letzten Anlauf nahm und die Geschichte endlich fertig schrieb.

Um mit dem Alten abzuschließen, habe ich hier die ersten und einzigen vier Kapitel abgespeichert. Diese alten Kapitel sind nicht mit dem aktuellen Werk zu vergleichen, da Schreibstil veraltet.

Doktor Faust Reloaded

Inhaltsverzeichnis:
Akt I: Hölle auf Erden
Akt II: Junktim
Akt III: Wiederauferstehung
Akt IV: Vier

Akt I: Hölle auf Erden

Sonderlich stickig war die Luft und von etwas Modrigem, Altem und Verbrauchtem geschwängert. Fenster gab es zwei, doch schienen diese seit Monaten nicht mehr geöffnet worden zu sein. Durch deren matte, schmutzigen Scheiben drang nur ein kleiner Teil der frühmorgendlichen Sonne von Nebris, dieser hässlichen, immer größer werdenden Metropole des späten neunzehnten Jahrhunderts. Ein kleiner Holzofen verbreitete nur spärliche Wärme. Das Flackern der glimmenden Glut brachte nur diffuse, falsche Helligkeit in die Dunkelheit des überfüllten Dachzimmers hier im obersten Stockwerk des verlassenen Gebäudes am Rande der Stadt.

Auf mehreren Tischen und Schränken lagen Waffen, die ihre besten Tage längst hinter sich gelassen hatten. Daneben Munition unterschiedlichen Kalibers, teils in Gürtel aufmunitioniert, teils lose rumliegend und langsam verstaubend. Weitere Gerätschaften wie Kletterausrüstung, technisch kompliziert aussehende und zerlegte Waffensysteme säumten einen Tisch, der einer Werkbank gleichkam. Handgranaten lagen überall verstreut. Es wirkte, als hätte sich jemand nach jahrelangen Streifzügen durch die Nacht für einen letzten Krieg und Kampf rüsten wollen, zu dem es aber nie kam.

Am Boden lag ein Mantel. Er war zerrissen, von Einschusslöchern und Rissen gesäumt. Längst war das Blut darauf eingetrocknet. Ein oder mehrere Kämpfe schienen auch hier in diesem Dachgeschoss stattgefunden zu haben. Aus- wie Hergang waren unklar, doch waren Einrichtungsgegenstände und der knarrende Boden stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Das Ziel verfehlende Silberbolzen steckten in den Wänden. Längst getrocknete Blutflecken pflasterten direkt den Boden. Einschusslöcher und Kratzspuren großer, scharfer Krallen säumten die Wände und hölzernen Stützbalken.

Etwas Unheilvolles, Krankes lag in der Luft. In einem kärglichen Bett, welches noch weniger Komfort als die billigste Pritsche einer Gefängniszelle besaß, lag ein alter, gebrochener Mann. Sein Gesicht wirkte ausgezehrt, der ganze Körper ausgemergelt und die Wangenknochen eingefallen. Mehr schlecht als recht zugedeckt mit einer schmutzigen, abgewetzten Decke kämpfte er seinen letzten Kampf. Auf dem kleinen Tisch daneben lag eine Schüssel mit blutigen Bandagen. Zahlreiche Fläschchen mit Medizin standen ebenso dort. Die meisten waren ausgetrunken. Eine der eckigen Phiolen mit blau schimmerndem Inhalt war umgefallen und ausgelaufen. Eine weitere war unversehrt, aber vom Tisch auf den Boden gefallen. Wohl hatte der Sterbende nicht mehr die Kraft aufbringen können, um sich zu erheben und sie aufzuheben.

Er hustete schwer. Es war ein bleierner, kratzender Husten. Einer der Husten, die einen allein beim Zuhören schon angeekelt schaudern ließen. Direkt rasselnd, als bestünde die Lunge einzig nur noch aus schleimigem Blut. Der Tod war bereits hier, doch schien er den Sterbenden noch leiden zu lassen und nicht erlösen zu wollen. Mit starrem, fieberndem Blick alter, stahlgrauer Augen sah Faust gen Decke. Stellenweise fand der saure Regen seinen Weg durch das undichte Dach und in seine Stube. Er hörte schon gar nicht mehr das Aufschlagen der einzelnen Tropfen. Saurer Regen war einer der Nachteile, wenn man in diesem Stadtviertel wohnte. Das industrielle Zeitalter ließ Dampfmaschinen zum Leben erwecken und nicht alles, was die Schornsteine und Anlagen in die Luft bliesen, war gut für die Natur. Doch gut für das Geschäft.

Klebriger Schweiß bedeckte seine glühende Stirn, doch machte er sich nicht mehr die Mühe, sie wegzuwischen. Faust war bereit zu gehen und hatte sich mental auch darauf vorbereitet. Seine Zunge fuhr über seine spröden, ausgetrockneten Lippen. Blut. Alles schmeckte nach Blut und Tod. Und nein, er würde diese Woche nicht mehr überleben. Wenn er überhaupt noch diesen Tag und den nächsten Morgen erleben würde.

Gerade, als er diesem letzten Gedanken freien Lauf lassen und sich ein letztes Mal von allem verabschieden wollte, hielt ihn etwas davon ab. Er war nicht mehr alleine. Er schreckte nicht auf, sondern ließ langsam den Blick sinken und blickte durch das schäbige Zimmer, welches Arbeitszimmer, Schlafraum, Waffenkammer und Rückzugsort zugleich war. Zudem der Raum, in welchem alles begonnen und nun hoffentlich alles ein Ende nehmen würde.

Doch hoffte er vergebens.

Sanft, viel zu sanft flackerte die immer schwächer werdende Glut im Holzofen und zeichnete plötzlich die Konturen einer Gestalt ab, die sich davor befand. Sie war einfach erschienen, direkt dem Schatten und der hässlichen, modernden Finsternis entwachsen. Zudem nicht zu hören, im Grunde auch nicht zu sehen aber deutlich zu spüren.

Doktor Faust schreckte nicht hoch.

Wusste er doch, um wen es sich handelte.

»Ich bin Euch lange entkommen«, grinste Faust, doch ließen die Schmerzen sein Gesicht zu einer hässlichen Grimasse verzerren. Er hatte noch nicht einmal mehr die Kraft, den Kopf gänzlich zu heben, um die Gestalt in Augenschein zu nehmen.

»Ja. Das seid Ihr«, raunte es aus dem wogenden Schatten, welcher sich immer mehr zu einer Silhouette eines Mannes formte. Genauere Konturen erkannte man immer noch nicht. Schon gar nicht ein Gesicht. Wohl, weil es ein solches nicht besaß. Oder Tausende davon. Dafür kam die Gestalt mit langsamen, unaufhaltsamen Schritten näher. Sie wirkten wie das Ende selbst. In gesunden Jahren hätte Faust dies imponiert oder zum Handeln angeregt, doch geschunden und dem Tode näher als dem Leben war es ihm egal. Das Ende nahte. War hier. Ob jetzt durch diese Gestalt oder in zwei Tagen, wenn er sein letztes Quäntchen leben ausspeien würde. Es war ihm egal. Knarrend gab der Dielenboden nach. Er kam ihm plötzlich so laut vor. Als würde ihnen mehr innewohnen als nur ein Geräusch nachgebenden Holzes. Ja. Das Ende. Es war das Ende. Für jeden.

»Und endlich habt Ihr mich auch gefunden. Was hat Euch so lange aufgehalten?«, verlor sich sein versuchtes Grinsen im Schmerz, der in seinem Körper als mehrere streuende Krebsgeschwüre tobte. »Doch ist es egal. Ich habe die Kämpfe geschlagen, die ich schlagen wollte. Nicht immer siegreich. Doch bin ich auch nicht unbedingt als Verlierer hier am Sterbebett geendet. Was meine Seele angeht, die könnt Ihr haben. Ich werde nicht mehr davonlaufen. Auch werde ich nicht mehr dagegen ankämpfen. Wenn Seelen unsterblich sind, dann haben mich die Jahre oder auch Jahrzehnte nicht wirklich schwächer gemacht. Die Hölle wartet bereits auf mich. Oder wo wollt Ihr mich hinbringen, sobald Ihr Euch meiner Seele bemächtigt habt?«

»Die Hölle? Ihr denkt wirklich, ich würde Euch in die Hölle bringen?«, lautete die Gegenfrage von Mephistopheles, der sich nun auf seinen Stock stützte, der von hageren, farblos schwarzen Händen gehalten wurde. »Befindet Ihr Euch denn nicht bereits in der Hölle?«, wogen die Frage und deren bewusst zynischer Unterton schwer im Raum. Leise knarrte der staubtrockene Dielenboden. Fast wirkte der Gekommene wieder wie die anfängliche Statur, nicht mehr als ein dunkles, unheilvolles Schemen. Alles war er, doch nicht menschlich. Wenn überhaupt real und nicht nur ein Konstrukt eines langen, tiefen Fiebertraumes.

»Vielleicht träume ich das alles auch nur und wache bald von einem bösen Traum auf. Vielleicht wache ich auch gar nicht mehr auf. Doch ja. Ich denke, dass mich die Hölle erwarten wird. Selbst wenn«, hustete er qualvoll. Es kam Blut mit, was er auf die speckige Wolldecke spuckte. Er hatte noch die Kraft, sich zur Seite zu drehen, um weiteren Auswurf in den bereits stinkenden Spucknapf zu spucken.

»Ist die Hölle nicht überall?«, blickte Mephistopheles durch den Raum und entfernte sich einen Schritt Richtung Fenster. »Ist sie nicht überall?«, wiederholte er die Frage und blickte durch eines der matten Fenster. Die Luft da draußen schien genau so schlecht wie hier drin zu sein. Nur noch stärker angereichert durch industriellen Abfall in Form von Abgasen. Mit jeder weiteren, zum Leben erwachenden Dampfmaschine würde die grüne Lunge der Welt einmal weniger atmen. In seinem dunklen Gesicht glommen Augen in einem finsteren, fast schwarzen Rot. Doch war in seiner eher rhetorisch klingenden Frage keinerlei Genügsamkeit zu erkennen.

»Nun bringt es endlich zu Ende, verdammte Höllenbrut«, sah Faust mit fieberndem Blick zu Mephistopheles hoch, der diesen nicht gleich erwiderte. »Ich habe ohnehin nicht mehr viel Zeit. Diesen Tag noch? Zwei? Oder eine Woche? Bestenfalls. Mein Leben ist dahin, also bringt es endlich zu Ende.«

»Zu Ende? Aber nein, Doktor Faust«, blickte er durchdringlich auf den Doktor. »Es hat gerade erst begonnen, wie ich fürchte.«

»Was wollt Ihr wirklich hier?«, wollte Faust ihm entgegengrimmen, doch wurde es nur ein rauer Anklang dessen. Schweißnass war die Stirn. Obwohl er innerlich dachte zu kochen, so fror er elendiglich. Wenn es eine Hölle gab, dann war sie auf Erden und fühlte sich genau so an. Nur als schwacher Hauch drang die Stimme aus seiner rauen, trockenen Kehle. Faust dachte, Schwefel zu atmen. Jeder Atemzug schmerzte in seiner Brust und brannte in seinen Lungen. Ja. Es ging bergab und dem Ende entgegen. Endlich.

»Was ich wirklich hier will, seid Ihr, Faust. Doch«, hob er seine Hand und hielt Faust so davon ab, einen Einwand zu erheben »aus einem anderen Grund, den ihr vielleicht glauben mögt. Ich bin nicht hier, um mich Eurer Seele zu bemächtigen. Auch wenn mir diese Seele zusteht und bereits mein ist, so würde sie mir im Moment nicht sehr viel nutzen. Nein. Nicht so«, schüttelte Mephistopheles in einer seltsam trägen Bewegung den Kopf. Seine Augen blieben bei dieser Bewegung jedoch starr auf Faust gerichtet. »Spart Euch Eure Worte. Denn Ihr versteht wohl nicht. Eure Seele hätte ich mir holen können. Schon ab der ersten Sekunde, als Ihr mich hier in diesem Anwesen gerufen habt, als noch Leben diesen Räumen innewohnte. Oder damals vor über fünfzehn Jahren, als Ihr den Pakt gebrochen habt und geflohen seid. Oder vor sechs Jahren, als Eure letzte, wohl auch einzige Liebe gestorben ist. Sarina war schön. In der Tat. Dunkelhäutig, voller Feuer und Reinheit. Ich war zu jedem Augenblick Tausende Meilen von Euch entfernt und doch nicht mal einen einzigen Schritt.«

Ein harter Blick traf Mephistopheles. Selbst die schwere Krankheit und das Fieber seines glühenden Körpers konnten die Härte davon nicht trüben. »Erwähnt Sarina nie, nie wieder in meiner Gegenwart, oder ich vergesse mich.«

Direkt verständnisvoll gab Mephistopheles mit einer leichten Verbeugung zum Verstehen, dies zur Kenntnis genommen zu haben. Selbst dann, wenn es nur eine inhaltslose Drohung war.

»Was ich will, ist ein Pakt mit Euch«, sagte der Erschienene schließlich knapp.

Faust lachte kurz auf, auch wenn ihm wahrlich nicht danach zumute war und das Geräusch seine Lungen zum Toben brachte. Kurz dachte er an den Perkussionsrevolver, der neben ihm auf dem Bettkästchen lag. Eine Patrone befand sich noch darin. Eine mit geheiligtem Silber ummantelte Stahlpatrone, die einen Uraniumkern umschloss. Was diese Patrone auch traf, es gab kein Erbarmen. Mephistopheles folgte den trüben Augen von Faust zu dem Unikat aus einer ganz besonderen Waffenschmiede. Ja, für einen Moment dachte der Doktor wirklich daran, die Waffe zu ergreifen und zu schießen. Fragte sich nur, ob sich selbst in den Kopf oder Mephistopheles ins Gesicht. Ob es einen Unterschied gemacht hätte?

»Einen Pakt? Erneut? Ich habe den ersten Pakt 1881 geschlossen und nur kurze Zeit später gebrochen«, flüsterte er schwach. »Glaubt bitte nicht, dass ich so töricht und dumm bin, Euch erneut um einen Pakt zu bitten«, schüttelte er abgezehrt den Kopf und wischte sich mit dem schmutzigen Ärmel des Schlafhemds das schleimige Blut von den Lippen, ehe der Arm schlaff und kraftlos zurück auf das Bett fiel. »Mein Kampf ist vorbei. Keine Macht der Welt kann mich dazu bringen, diesen Fehler erneut zu begehen. Ich will auch gar nicht mehr von diesem Schmerz erlöst werden. Ich begrüße ihn, alter Mann. Ich begrüße ihn und warte nur noch darauf, bis es zu Ende ist. Ihr könnt mir in diesem besonderen Moment gerne beiwohnen. Etwas Gesellschaft tut vielleicht gut, nach Jahren der Einsamkeit und Leere. Selbst dann, wenn es der Teufel ist, der sich zu mir setzt und Geleit gibt für das nächste Leben. Falls es eines gibt«, verlor er den Gedanken. Fast wirkte es, als würde sich etwas bittere Genugtuung in diesen Worten widerspiegeln.

»Nicht Ihr bietet mir einen Pakt an«, beugte sich Mephistopheles über den todkranken Faust. Kalter, ja eiskalter Atem drang diesem entgegen. Auch wenn er nach nichts roch, so schmeckte er nach etwas Schlimmerem als nach Tod. »Sondern ich biete Euch einen Pakt an. Ich brauche Euch. Nicht vice versa.«

»Versucht Ihr es nun auf diesem Weg? Ich bin selbst mit allen Wassern gewaschen. Glaubt nicht, dass ich auf einen solchen Trick hereinfalle, Teufel!«

»Teufel?«, war der Angesprochene überrascht über eine solche Anrede. »Denkt Ihr wirklich, ich wäre die einzige trübende Macht in dieser Existenz?«, erhob sich Mephistopheles und blickte auf Faust herab. Offenbar hatte er eine andere Antwort erwartet. Mit starrem Schritt, der vom knarrenden Boden begleitet wurde, schritt er zum Fenster und sah hinaus. Gedämpft drang das Wummern und Schlagen eiserner Maschinen und Menschen durch das Fenster. Es war früher Morgen. Orangefarbenes, rot geschwängertes Licht trat zum Fenster herein, erhellte den Raum aber kaum. Die Kontur von Mephistopheles Gestalt zeichneten sie wie durch einen bizarren Weichfilter ab. Von harten Zügen war das Gesicht gezeichnet, doch vermochte selbst die Sonne nicht, es so weit zu erhellen, als das man ein wiedererkennbares Gesicht hätte darin sehen können.

»Ja. Den Satan schimpft und nennt man mich. Teufel. Fürst der Finsternis. Mephistopheles. Doch was ist, wenn ich nur einer von vielen Teufeln bin? Was, wenn Mephistopheles nur ein Name ist? Was ist, wenn jeder Teufel auch nur ein Mensch ist? Ebenso jeder Gott? Was ist, wenn es die Hölle an sich gar nicht gibt, da alle Schlachten hier auf Erden geschlagen werden?«, blickte er auf die Straße mehrere Stockwerke weiter unten. Man konnte aufgrund des nachdenklichen Charakters der Frage fast meinen, dass er sich die Frage selbst gestellt hatte und nicht Faust. »Doch nein«, kam er zu dem Entschluss und löste sich. »Es gibt nur einen Teufel, und das ist der Mensch selbst. Von allen Bestien wird stets er die Grausamste sein«, wogen die Worte von Mephistopheles schwer. »Doch gibt es viele Teufel. Und ich bin wahrlich nicht das schlimmste Übel, was dem Leben widerfahren kann. Selbst ich bin nur eine Marionette in einem weitaus größeren Spiel«, sah er wieder auf Faust, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, den hölzernen Gehstock haltend.

»Auf was wollt Ihr hinaus?«

»Sagt Euch als gebildeter Mann und Doktor der arkanen Künste das Aequilibrium etwas?«, nahm Mephistopheles eine der leeren Phiolen in die Hand und begutachtete sie, hielt sie dazu etwas gegen das schwache Licht vom Fenster. Einige Tropfen der dichflüssigen, blau schimmernden Flüssigkeit befand sich noch darin.

»Das Gleichgewicht der Mächte? Was hat das damit zu tun?«, klang es schwach aus Fausts Kehle.

»Alles!«, riss Mephistopheles den Kopf herum und seine Augen flackerten auf. »Es hat alles damit zu tun!«, drehte sich nun auch sein Körper zum Doktor. »Alles Leben, sei es das Schöne oder das Hässliche, das Licht oder der Schatten, der Kuss oder der Schlag, existiert einzig, weil es das Aequilibrium gibt!«, machte er eine ausladende Geste, die den ganzen Raum umfasste.

»Macht Euch nicht lächerlich«, musste Faust noch mitten im Satz heftig husten. Es fühlte sich an, als würde sich seine Lunge mit jedem Husten ein Stück mehr auflösen. Von allen Arten, die er dachte, einmal ins Gras beißen zu müssen, so hatte er nie in Erwägung gezogen, einmal am eigenen Blut zu ersticken oder die eigenen Organe auf den Boden zu brechen.

»Das Mächtigste in einem Menschen ist wohl der Selbsterhaltungstrieb. Und so wie auch ich einst ein Mensch war und es noch immer bin, habe ich dies wohl nie abgelegt. Und genau das führt mich zu Euch zurück, Doktor. Ein Kampf steht bevor. Doch nicht nur ein Kampf. Der Kampf! Die Schlacht aller Schlachten.«

»Euch«, schüttelte Faust schwach den Kopf. »Euch steht ein Kampf bevor. Meiner ist bereits geschlagen und vorbei.«

»Ja. Das mag sein«, grinste Mephistopheles. Fast war etwas Güte und Verständnis darin zu erkennen.

»Doch wird es ebenso Euer Kampf werden. Das Aequilibrium ist das Gleichgewicht von Licht und Schatten. Sobald eine der beiden Mächte überwiegt, sei es das Gute oder auch das Böse, wird diese Existenz auf ewiglich ins Nichts stürzen. Wohl scheint es, dass es einen mächtigen, weiteren Teufel gibt, der gefräßiger ist als ich und ein großes Stück der Macht für sich beanspruchen will.«

»Und wohl ist auf dieser Welt nur Platz für einen Höllenschlund«, flüsterte Faust.

»So scheint es«, nickte der Erschienene. Ein finsteres Grinsen befand sich auf seinen Zügen.

»Wie erbärmlich. Mephistopheles höchstpersönlich, der selbsternannte Teufel, hat Angst vor dem Tod und benötigt die Seele eines Menschen, um in den letzten Krieg zu ziehen. Daher sucht Ihr den Pakt mit mir, um selbst Eure verdammte Existenz zu retten. Selbst wenn ich einem Pakt zustimmen sollte. Warum sollte ich das tun? Ich habe mein Leben gelebt und meine Schlachten geschlagen. Es gibt keinen Grund für mich, noch weiter vor etwas zu flüchten. Oder für irgendetwas zu kämpfen. Es ist mir egal geworden. Ich habe bereits alles verloren. Nichts und niemand kann mich mehr umstimmen oder Hoffnung in meinem Herzen der Finsternis pflanzen. Nein. Nicht mehr«, dachte Faust traurig an Sarina. Sie war die Einzige, die etwas Licht in die Dunkelheit seines Lebens gebracht hatte. Es waren nur wenige Jahre, die er mit ihr verbringen durfte. Doch brachten diese mehr Wärme und Licht in sein Leben als alle anderen Jahrzehnte zusammen. Doch das war jetzt vorbei. Alles war vorbei. Nicht mehr als graue, tote Vergangenheit.

»Und wenn Ihr den Tod so sehr fürchtet, warum reißt Ihr Euch nicht einfach meine Seele an Euch? Jetzt, wo Ihr mich gefunden habt? Mehr braucht Ihr nicht«, wurde seine Stimme lauter. Im Grunde hatte er keine Stärke mehr, seinen Worten Nachdruck zu verleihen, doch tat er es trotzdem. Seine Lunge zahlte sofort diesen Preis und ließ ihn so stark husten, dass seine Augen zu tränen begannen und ihm schier seine Sinne verschwammen.

»Geknechtete Seelen besitze ich fürwahr genug«, blickte er beinahe genüsslich, ja süffisant auf Faust, der sich das Leben aus dem Leib hustete. Sein ganzer Körper bäumte sich auf und schien sich zu quälen und zu wehren. »Was ich benötige, ist eine freie Seele«, setzte er nach, nachdem sich Fausts Anfall etwas gelegt hatte. »Ein Wesen, welches sich aus freien Stücken mit mir verbündet. Ebenso jemanden, der nichts mehr zu verlieren hat«, huschte ein Grinsen über den Schatten, den man als Gesicht sehen konnte.

»Ich bitte Euch. Warum solltet Ihr mich benötigen? Ich denke nicht, dass der Teufel auf einen sterbenden Menschenkörper angewiesen ist, um am Leben zu bleiben.«

»Ihr Menschen betrachtet alles so körperlich und äußerlich. Es geht vielmehr um die inneren Werte, die Euch Menschen doch so wichtig sind. Das Licht ist nur stark, weil der Schatten den Kontrast bildet. So wie wir den Schatten nur fürchten, weil wir das Licht gewöhnt sind.«

»Der Gegenpol«, folgerte Faust.

»Richtig.«

»Dieses Mal wird Euer Plan aber nicht aufgehen, Teufel. Nichts kann mich dazu bringen, einen solchen Pakt zu schließen.«

»Ich bitte Euch, Doktor Faust«, hämte Mephistopheles und kam bedrohlich nahe. So nahe, dass Faust den kalten, aschfahlen Atem wahrnehmen konnte. »Ich weiß, dass Ihr anders seid. Ich weiß, dass in Euch etwas danach schreit, sich mit mir zu verbinden. Ihr wollt diese Welt nicht verlassen, ohne den Unterschied hinterlassen oder gebildet zu haben, den Ihr selbst so lange gesucht habt. So viele Monster Ihr gerichtet habt – wollt Ihr wirklich den letzten Kampf gegen den Krebs führen und verlieren? Nein. Das wollt Ihr nicht. Da ist noch etwas anderes in Euch«, kam er erneut näher, schien ihn direkt zu umhüllen. »Ihr habt es nur vergraben. Lasst es raus, Doktor. Ich weiß, dass Ihr das wollt.«

»Woher wollt Ihr das wissen?«, konnte er nicht ansatzweise die Überzeugungskraft in die Aussage setzen, wie er wollte. Doch ja. Denn Mephistopheles hatte Recht. Mit jedem Wort. Da gab es etwas tief in seinem Inneren, was danach schrie, erneut nach dieser Macht zu greifen. Es war, als wäre er so lange unerfüllt, bis er es erreicht hätte. Nur was erreicht hätte? Zahlreiche Kämpfe hatte er mit dem Teufel in sich selbst vereinigt geschlagen. Dämonen, Hexen, Vampire und Lycanthropen. So viele hatte er vernichtet, doch nicht erreicht, was er erreichen wollte. Die richtige Schlacht schien noch bevorzustehen. Er spürte es, doch war er nicht in der Lage, die Finger und Gedanken danach greifen zu lassen, um es zu einer Form werden zu lassen. War dies dieses Etwas, was ihn alles verlieren ließ? Er kannte keine Antwort darauf, da die Frage danach gar nicht gestellt werden musste.

»Es ist nicht unbedingt so, als ob Ihr eine Wahl hättet, Doktor Faust.«

»Doch. Die hat man immer«, griff Faust mit zitternder Hand zum Revolver auf dem Kästchen neben dem Bett. Die Waffe war geladen, wie er wusste. Jedoch nur noch mit einem einzigen Schuss.

Der Letzte, der ihm geblieben war.

Und mehr war es auch nicht, was er benötigen würde, wie er hoffte.

Er spannte den Hahn, zielte und drückte ab.

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Akt II: Junktim

Schwer und seltsam vertraut war der Rückstoß des sieben Schuss fassenden, mattschwarzen Revolvers, als der gespannte Hahn auf das grün strahlende Zündhütchen der letzten Patrone schlug und sie durch den Lauf katapultierte. Selbst der Griff schien sich augenblicklich an die klebrig schweißige Hand von Faust anzuschmiegen und Eins damit zu werden. Führung, Handhabung und Zielsicherheit waren ungetrübt, auch wenn Fausts Augen fiebrig dreinblickten und sein Körper zitterte.

In jeder Hinsicht war die Waffe ein Unikat und einzig für ihn angefertigt worden. Baskerville war auf der Seite des verhältnismäßig kurzen Laufes in dicken Lettern eingraviert worden. Ja. Baskerville, wie er sich erinnerte. So wie der Name des Höllenhundes, der in den frühen 1880er Jahren zuerst im ländlichen Umland und nicht zuletzt in Nebris selbst Hunderten den Tod gebracht hatte. Wie eine blutgeile Bestie war diese Kreatur, die groß wie ein Bär und schnell wie eine Raubkatze war, auf die Jagd nach Menschen gegangen. Blutig und von Angst und Panik erfüllt war die Spur, die sich durch die Gassen und Straßen zog.

Lange Wochen, viele Opfer, noch mehr Zerstörung und einen schrecklich blutigen Kampf mit hohem Kollateralschaden hatte es gebraucht, um die Bestie schließlich zur Strecke zu bringen. Faust musste sein komplettes Repertoire an Waffen, arkanem Wissen und Können einsetzen. Ohne den Pakt mit Mephistopheles hätte er noch größere Verluste einstecken müssen und den Kampf und nicht zuletzt sein Leben verloren. Ebenso wäre Nebris mit seinen über einhundert-tausend Einwohnern verloren gewesen.

Von Anfang an war Baskerville auf kurze Distanzen ausgelegt. Faust hatte sie stets als ein Ultima Ratio verwendet, wenn seine primären Waffen nicht mehr ausreichten und er von Gegnern in die Enge getrieben wurde. So war es auch bei diesem Höllenhund, welchem er die letzten drei Schuss in den Schädel gejagt hatte. In Verbindung mit den silberummantelten Stahlpatronen mit Uraniumkern besaß diese Waffe die Durchschlagskraft eines Vorschlaghammers und Verderbnis des Todes selbst.

Kehrseite dieser Medaille war das verwendete reine Uranium, welches ihn als Waffenführer mehr und mehr vergiftete. Mit jedem Gegner, den er damit tötete, tötete er auch sich selbst ein Stück. Weit war das industrielle Zeitalter fortgeschritten und befand sich im Zenit aller Genialität und Schaffens. Dampfmaschinen, Fluggeräte, Waffensysteme. Alles schien möglich. Doch nicht, die unsichtbare Strahlung einzudämmen, die erst sichtbar wurde, wenn es bereits zu spät war. Der Fortschritt eilte voran und wartete auf niemanden, schon gar nicht auf Verluste oder die Vernunft.

Stets führte Faust diese Waffe samt ausreichend Munition bei sich, was ihn auch mehr und mehr vergiftete. Krebsgeschwüre wuchsen und wucherten tiefer, als Heiltränke helfen konnten. Selbst die besten Mixturen von Schamanen und Druiden, die er aufsuchte, halfen nur bedingt. Zudem kam auch die Sucht hinzu. Heiltränke in einer solchen Quantität und vor allem solch hohen Konzentration zu sich zu nehmen erwies sich noch nie als weisen Zug.

So tötete ihn das, was ihn am Leben erhielt.

Welch verdammte Ironie, wie er dachte.

Ungebremst durchdrang die Patrone das schemenhafte Gesicht von Mephistopheles. Wie eine diffuse Nebelschwade verflüchtigte sich sein loses Angesicht, um sich anschließend wieder zu formen. Dafür durchschlug das massive Geschoss den Brustkorb eines Daemons, welcher sich gerade in der Dunkelheit materialisierte und zum Angriff übergehen wollte. Mit einem lauten Krächzen wurde die menschengroße, gekrümmt laufende Kreatur von den Füßen gerissen und zurückgeschleudert.

Dumpf schlug sie mit dem Schädel in der Wand ein. Bereits maroder Putz bröckelte ab, man hörte Knochen brechen. Regungslos und mit offenen, hassenden Augen aus ungeheuerlich tiefen Augenhöhlen blickte das Wesen in die Leere, als ihm augenblicklich das Leben entrissen wurde. Dieser erste Eindruck blieb einem Beobachter auch im Gedächtnis, obwohl der erschienene Daemon sofort zu schwarzem Staub zerfiel. Einzig übrig gebliebene Zeugen seiner Ankunft waren die Blutflecken, die der Treffer verursachte sowie die Lache, die sich unter ihm gebildet hatte. Und nicht zuletzt die Patrone, die in die Wand einschlug und dort die Steine zersplittern ließ.

»Für einen Moment dachte ich, Ihr wolltet mir ins Gesicht schießen«, lächelte Mephistopheles dünn, ohne sich zu dem bereits wieder verschwundenen Daemon umzudrehen. Auch hatte er in keinster Weise auf das Geschoss reagiert, welches ihn durchdrungen hatte. Schließlich wusste er alles über Faust. Mit eingeschlossen, dass ihm diese Waffe keinen Schaden zufügen konnte. Zumindest nicht, solange er sich nicht manifestierte.

»Er schien Euch nicht wahrgenommen zu haben«, stellte Faust fest.

»Das war Eure letzte Patrone, Doktor«, bemerkte er kühl, Fausts Bemerkung ignorierend. »Ihr hättet Euch viel Ärger erspart, wenn Ihr sie für Euch selbst verwendet hättet.«

»Und da seid Ihr Euch ganz sicher?«, fiel ihm die plötzlich unglaublich schwer gewordene Waffe aus der Hand. Plump fiel sie auf den kleinen Tisch neben der Liege, wo sie zwei der bereits geleerten Phiolen zerschlug. Fast geräuschlos zerbarst deren dünnes Glas und rieselte ebenso leise über den Tisch.

»Bringen … bringen wir es hinter uns«, stockte ihm vor Schwäche der Atem. »Den Teufel, den wir jagen. Wie heißt er? Was wisst Ihr über ihn?«

»Sie. Wie heißt sie«, verbesserte Mephistopheles. »Und Ihr Name ist Deamor.«

»Wie können wir sie besiegen?«

»Ich weiß nicht, ob wir sie besiegen können. Jedoch kann ich Euch versprechen, dass dies die größte Schlacht ist, die Ihr je schlagen werdet. Sowohl für Euch als auch für mich. Angefangen von blanker Waffengewalt bis hin zu erlernten arkanen Künsten werdet Ihr keine Kunst ungenutzt lassen. Seid Ihr noch Herr dieser Künste?«

Unbewusst blickte Faust auf seinen rechten Arm. Nicht ganz zum Handgelenk reichte der zerfranste Ärmel des dreckigen Überziehers. Somit konnte man den Blick auf eine Tätowierung und Zeichnung sehen, die sich auf seinem Oberarm befand. Weiter Richtung Armbeuge befanden sich dort verewigte Runen in Form von weiteren Tätowierungen. Es waren sieben an der Zahl und jede von ihnen war pechschwarz, direkt unnatürlich dunkel.

Im Vergleich zu seiner kränklich weißen Haut wirkten sie wie ein viel zu starker Kontrast und fehl am Platz. Jede Einzelne davon verlieh ihm eine besondere Fähigkeit, die sich nicht nur auf das Physische bezog. Bereits vor seinem Pakt mit Mephistopheles im Jahre 1866 hatte er sich drei davon angeeignet. Das Bündnis mit dem Teufel hatte ihm über kommende Jahre weitere vier Runen beschert und ihn stark werden lassen. Leider zu einem zu großen Preis, wie sich herausstellte. Wobei ein rapide alternder Körper, Wahnsinn und Krebsgeschwüre wahrscheinlich noch das Harmloseste daran war.

»Ja, ich bin noch Herr dieser Künste. Jeder einzelnen davon«, blickte er schwach die Gestalt an. Es schien etwas Wehmütigkeit in seiner Stimme mitzuschwingen. Als würde er es gleichermaßen bereuen und hassen, sich nicht mehr dieser Mächte bedienen zu können. Einer Macht zu verfallen ging langsam vor sich und doch so schnell, dass man es überhaupt nicht mitbekommt. Zu viele Jahre. Ja. Zu viele Jahre hatte er den Nektar fremder Mächte gekostet und wollte überhaupt nicht mehr zum faden Geschmack der Menschlichkeit zurückkehren.

»Deamor«, sprach er das Übel aus. »Wie werden wir sie finden?«

»Das wird nicht nötig sein.«

Faust ahnte Schlimmes und die kommende Antwort gab ihm Gewissheit darüber.

»Deamor ist bereits auf dem Weg hierher. Wie auch ich ist sie sich der Tatsache im Klaren, dass in dieser Existenz nur von einem von uns Platz ist. Bereits jetzt kann man spüren, wie sich die Mächte im Aequilibrium verschieben und der Horizont allen Lebens sich verdunkelt.«

»Und ich soll einem Teufel helfen einen anderen Teufel zu vernichten, damit nur ein Teufel diese Welt beherrscht.«

»Beherrscht? Nein, mein Doktor. Nein«, schüttelte er träge den Kopf. »Beherrschen ist wahrlich nicht, was ich intendiere. Es gibt wahrlich, nun, nicht lukrativere, aber sagen wir erstrebenswertere Weisen, ein Dasein zu führen. Selbst für einen Teufel. Doch wahrlich solltet Ihr Eure verbliebene Zeit nicht mit solch banalem Gedankengut verschwenden. Deamor ist mir gefolgt und unser Vorsprung schwindet mit jeder Silbe, welches unsere Lippen verlässt«, mahnte er eindringlich.

Auch wenn Faust das Gefühl hatte, dass Mephistopheles nicht gerade den Anschein machte, als würde ihn die Zeit jagen. Doch kannte er den Teufel, der sieben Jahre von seiner Seele und Chi gezehrt hatte. Oder vice versa. Machte das noch einen wesentlichen Unterschied? Nein. Sicher nicht, wie er wusste.

»Es wird nicht mehr lange dauern, bis Deamor hier ist. Ihre Spitzel sind es bereits und sie wird auch nicht alleine erscheinen«, erhob er den Arm aus Schatten und deutete aus dem Fenster. Faust gab sich kaum die Mühe, den Kopf in die Richtung zu drehen. Am Horizont sah man geflügelte Gestalten. Insofern man dies über die rauchenden Schornsteine der zahlreichen Fabriken hinweg beurteilen konnte, war es nur ein knappes Dutzend. Dafür waren sie schwärzer als der Schatten und schienen mit jedem Schwingenschlagen das Verderben selbst anzukündigen, als würde es in ihren Mitten fliegen.

Immer verschwommener wurde alles vor Fausts Augen. Er sah bereits seine letzte Unze Lebensenergie verbrennen. Den Arm konnte er nicht mehr heben, noch weniger den Kopf drehen. Rasselnd ging sein finaler Atem, doch begrüßte er immer noch das Ende. Das Leid. Es würde enden, weil es beginnen würde. Endlich. Somit sehnte er sich danach. Schon seit es in Form von Mephistopheles erschienen war. Und egal, in welcher Form es auch noch kommen mochte. Doch wenn man den Unterschied machen und das Erbe hinterlassen konnte, welches man sich in dieser Welt wünschte – nun, verdammt sei doch alles, wie ein finsteres Grinsen über Fausts Züge huschte.

»Lasst endlich los, Doktor Faust und beschwert Euch nicht unnötig mit Gedanken, die Euch fesseln wollen. Das Leben ist nicht mehr wichtig. Nicht wichtiger als der Tod zumindest. Begrüßt Ihr den Tod, begrüßt Ihr mich. Sobald Euer Fleisch der letzte Odem verlässt und sich Eure Seele aus dem Körper löst, werde ich mich mit Euch vereinen.«

»Mit welchem Körper?«

»Wenngleich wichtig, ist Fleisch nur Materie und wertlos ohne Willen oder Kraft«, lautete die dunkle Antwort. »Und so wie der Geist stets über der Masse steht und ein Wille alle Berge bewegt, wird auch Euer Körper zu neuem Leben erwachen.«

Faust wollte eine abfällige Bemerkung machen, doch schaffte er es nicht mehr, seinen letzten Hauch dafür zu verwenden. Seltsam schwer wurde sein Körper und doch schwerelos zugleich, als er endlich losließ. Gläsern war der Blick seiner stahlgrauen Augen, die sich an Mephistopheles festbissen. Nicht an dessen Augen oder Gesicht, sondern der Gestalt des Teufels selbst. Zumindest sah er, was ihm den Tod und das Leben zugleich brachte. Sah er doch in gewisser Weise sich selbst. Auf den Spuren des Todes war er gewandelt. Hatte für so viele Kreaturen und Menschen den Tod gebracht. Zudem sich selbst, als schlimmste Kreatur von allen. Ja. Einen Pakt hatte er mit einem Teufel geschlossen, um zu einer noch schlimmeren Bestie zu werden. Und um etwas Gutes zu bewirken, musste man oft erst etwas Schlechtes heraufbeschwören. Es gibt immer eine Kehrseite der Medaille und jedes Licht wirft einen Schatten.

Doch das ist jetzt alles egal, wie er dachte. Das spielt jetzt keine Rolle mehr, da er sich bereits entschieden hatte und den Weg gegangen war. Niemals würde der Weg enden. Und selbst der Tod, ein Pakt und alles andere war nur eine weitere Gabelung. Nicht mehr. Nicht weniger. Wie alles im Leben ist auch alles im Tod. Eins.

Auch wenn er gedachte, seinen letzten Gedanken als Mensch mit etwas Friedlichem zu füllen und an Sarina zu denken, so gelang ihm dies nicht. Nicht, wenn es noch keinen Frieden in diesem Leben gab. Dieser letzte Krieg, diese letzte Schlacht musste noch geschlagen werden. Schließlich sollte ein Leben aus Krieg auch genau so enden. Wer auf einer blutigen Klinge reitet, wird irgendwann durch sie fallen und sterben.

Erst dann würde er in Frieden gehen können.

Das Loslachen vom Leben war leicht und bedurfte nur eines winzigen Gedankens. Alles, was sich in seinem Geiste bildete, als seine Wahrnehmung verschwamm, war eine schwer bewaffnete Gestalt der Zerstörung und Vernichtung. Nicht Mephistopheles als Teufel. Nicht er als Viktor Gringore von Faust. Nein. Es war etwas Vereintes, was in jeder Hinsicht unvorstellbar wirkte und doch real war. Es jagte ihm einen Schauer über den Rücken, auch wenn er diesen nicht mehr spüren konnte.

Die Rückkehr in das Leben hingegen wäre das Grausamste, was er je erleben würde.

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Akt III: Wiederauferstehung

Viktor Faust fühlte sich, als würde ihm das Leben gleichzeitig aus seinem Körper gerissen und doch mit aller Gewalt entfacht werden. Wie eine eiskalte, rostige Klinge drang etwas in ihn ein, um etwas mit barbarischer Grausamkeit herauszutrennen. Er kannte dieses Gefühl. Leider nur zu gut, wie er bitter zugeben musste. Es war im Jahre 1866 und ein eiskalter Tag des Arachnidenmonats, als der Pakt mit Mephistopheles geschlossen wurde und er sich damit vereint hatte.

Das lag jetzt zweiundzwanzig Jahre zurück. Obwohl er dachte, dieses Gefühl schon längst vergessen zu haben, war es plötzlich wieder allgegenwärtig. Als wären diese über zwei Dekaden nicht mehr als ein Wimpernschlag gewesen. Der Schmerz? Er war nie wirklich vergangen. Fälschlicherweise hatte Faust gedacht, den Pakt brechen zu können.

Töricht. Wie absolut dumm und töricht, schelte er sich selbst. Fünfzehn Jahre war das nun her. Im Geheimen war der Pakt also nie gebrochen gewesen. Und wie Mephistopheles recht hatte, war er nie weiter weg als der kalte Hauch in seinem Nacken. Aber wieso hatte er dann all seine Mächte verloren? Wohl ließ ihn Mephistopheles in dem Irrglauben, dass dies so war. So wie es jeder Teufel machen würde.

Seit jeher sagt man, dass es der größte Trick des Teufels gewesen sei, den Menschen im Irrglauben zu lassen, dass er überhaupt nicht existiert. Faust hatte sich für einen klugen Kopf gehalten. Als Doktor der Medizin und der arkanen Künste, versierter Künstler, Erfinder und Okkultist dachte er, vor derartigen Dingen gewappnet sein. Doch nein. Selbst ihn hatte er reingelegt. Oder erst recht ihn, da er sich trotz aller Schutzvorkehrungen blauäugig hingegeben hatte. Faust hätte sich noch im Nachhinein für die Torheit und Leichtgläubigkeit ohrfeigen können.

Doch all der Gram, der Hass und der Zorn über Vergangenes verrauchte im Nichts. Spielten Dinge wie Reue jetzt keine Rolle mehr. All diese Empfindungen machten einer kalten Leere Platz, die sein Innerstes zersplittern ließ, ehe sich alles wieder neu zusammensetzte und füllte. Mit all seiner Energie tauchte Mephistopheles in den geschundenen Körper von Faust ein. So sehr sich Viktor danach sehnte, diese alte und zerfallende Hülle hinter sich zu lassen, so immens wollte er sich für einen Moment dagegen streben, sie auch wirklich von sich zu stoßen.

Er fühlte sich wie in einem inneren Martyrium hin- und hergerissen. Seine Seele ließ einen stummen, aber erschütternd lauten Schrei los, der sein ganzes Ich erzittern ließ. Seine Seele rebellierte. Ein zurück gab es aber nicht. Gab es nie.

So gab er sich all dem hin, umarmte die kalten Empfindungen des Todes und Lebens zugleich. Er ließ geschehen, was geschehen musste. Der Hass über sich selbst und diese Welt entfachte, wurde neu geboren. Ebenso die Liebe zu Sarina. Auch wenn sie nicht mehr am Leben war, so waren die Empfindungen für sie in seinem Inneren niemals abgeflaut.

So, als wäre sie immer noch am Leben und hätte ihn gerade voller Liebe umarmt und Geborgenheit gespendet. Das Gute wie das Schlechte, Erinnerungen und Erlebtes. Alles kämpfte gegeneinander und wollte Viktor im Verlauf dieser Schlacht zerbersten lassen. Im gleichen Moment wurde jedoch alles eins und vereint. Zusammengehalten von der Kraft des Teufels, der sich erneut in ihn einnistete und Eins mit ihm wurde.

Schon seit der ersten Berührung zitterte der geschundene, vom Krebs zerfressene Körper, bäumte sich unter der Gewalt auf, als wollte er sich mit aller Kraft wehren. Gar erhob sich sein Körper und wurde für diesen kurzen und doch so langen Moment schwerelos.

»Welch ein vertraut hässlicher Ort«, bemerkte Mephistopheles, als die erneut geschehene Fusion ein Ende gefunden hatte und die Gravitation wieder Besitz von seinem Körper ergriff. Erschöpft und vitalisiert zugleich lag nun Faust auf der schäbigen Liege. Sein Blick war blind nach oben gerichtet. Tief sog er die Luft in seine Lungen ein, war jedoch noch nicht in der Lage, gänzlich zu begreifen, dass dies eine Wiederauferstehung war. Während des Verkrampfens hatte er den Tisch umgeworfen und die Phiolen über den Boden verteilt. Auf die Seite war der Spucknapf gekippt.

Ein Schleier, der sich über seine Augen gelegt hatte, lichtete sich zunehmend. In den letzten Tagen, Wochen, vielleicht sogar Monaten hatte er gar nicht mitbekommen, wie seine Sinne mehr und mehr am Schwinden waren. Klarer wurde nun auch sein Verstand, der ihn Gedanke für Gedanke realisieren lies, wo er sich befand und was gerade geschehen war. Ja. Sein Geist, wie er innerlich kurz lachte. War der Geist doch stets seine stärkste Waffe, die ihn oft triumphieren ließ, wenn der kalte, leblose Stahl seiner Büchsen nichts mehr ausrichten konnte.

Langsam, direkt träge richtete er sich auf, als würde er direkt darauf warten, einem gewohnten Schwächeanfall zu erliegen. Noch nie hatte er sich so stark gefühlt. Auch wenn er sich mahnte, dass ihm diese neue Kraft nur so immens vorkam, weil er einzig nur noch Schwäche gewöhnt war. Kaum konnte sich Viktor erinnern, wie lange es her war, seit er sich von dieser Liege erhoben hatte. Noch nicht einmal, wann er sich das letzte Mal darauf niedergegeben hatte. Eine Ewigkeit musste es sein.

Er bückte sich und hob seine treue Waffe Baskerville auf. Obwohl er wusste, dass er die letzte Kugel durch das Gesicht von Mephistopheles und die Brust des Daemons gejagt hatte, öffnete er den Revolver. Mit einer routinierten Bewegung drehte er die leere Trommel, die nicht wie bei den meisten Revolvern nach unten, sondern nach oben aufklappte. Das Geräusch des drehenden Metalls wirkte vertraut und weckte das Bedürfnis, ja direkten Drang, die Waffe mit neuer Munition zu bestücken. Mit einem Ruck klappte er die Waffe zu.

»Wie viel Zeit?«, wollte er von Mephistopheles wissen, obwohl er die Antwort selbst sehen konnte, die mit lauten Schwingen näherkam.

»Zu wenig«, lautete die knappe Antwort.
Faust eilte zum Tisch und nahm dort den speziellen Waffengurt an sich, welcher sowohl um die Hüfte als auch x-förmig um den Torso gelegt wurde. Baskerville befand sich stets in einem Holster an der linken Seite. Hastig suchte er den Tisch nach verbliebener Munition ab, fand aber nur noch sechs der besonderen Geschosse, welche er umgehend in den Revolver lud.

Drei modifizierte Stielhandgranaten des Typs ›V4S‹ verstaute er in den entsprechenden Ösen. Sie waren merklich kleiner als gewöhnliche Granaten dieser Art, waren in der Sprengkraft jedoch identisch. Weiterhin fuhren durch eine ausgeklügelte Mechanik wie bei einem Springmesser aus dem Sprengkörper zahlreiche Zacken mit Widerhaken aus. Dies ermöglichte es dem Werfer, die Granate direkt an das Ziel zu werfen, wo sie im nächsten Augenblick explodierte. Was besonders nützlich war, wenn man eine Wand oder Decke zum Einsturz bringen wollte.

Fausts Waffenmeister, der erst zwanzig Jahre alte Vincent Vier, hatte sie entwickelt. Schon des Öfteren hatten ihm dessen fragliche Errungenschaften und als krank zu bezeichnenden Einfälle das Leben gerettet. Wohl war aber Faust der Einzige, der gut von ihm dachte. War er zudem der Einzige, der sein Talent förderte.

Hätten sich ihrer beider Lebenslinien nicht gekreuzt und hätte Faust ihn nicht aus dem Gefängnis befreit, würde Vincent wahrscheinlich noch immer seinen destruktiven Geist und stets unterfordertes Genie dafür verwenden, erstens auszubrechen und zweitens Bomben und Minen zu bauen. Einzig, um sich daran zu erfreuen, wie sie explodierten und Menschen in den Tod mitrissen und Blut und Gedärme Boden und Wände zierten.

»Mit zu wenig meinte ich im Übrigen keine Zeit, Herr Doktor«, mahnte Mephistopheles mit einem fast beiläufigen Tonfall. Faust ignorierte den Einwand. Ja, er war sich bewusst, dass Dimagorth samt ihrer Schergen gleich hier wäre. Beziehungsweise bereits hier war. Umso besser, wie er dachte und die letzte Granate sicher verstaute. Schließlich hatte er noch einen allerletzten Trumpf im Ärmel.

Im gleichen Moment, als Faust sich die letzten Utensilien schnappte und aus dem Zimmer lief, stürzten gleich mehrere der beflügelten Gestalten durch die Fenster, deren Scheiben mit lauten Krach zersplitterten. In seine Splitter zerfiel das morsche, poröse Holz der Fensterrahmen selbst, welches zu viele harte Winter und unbarmherzige Sommertage rissig hatten werden lassen.

Schon seit er im dunklen Frühling des 1874 diese Räumlichkeiten im obersten Stock dieses verlassenen Gebäudes bezogen hatte, wusste er, dass dieser eine Moment früher oder später einmal kommen würde. Es war unabdingbar. Wer stets auf der Jagd nach Daemonen, Teufeln und auch menschlichen Ausgeburten der Hölle war, musste sie irgendwann nicht mehr suchen, da sie einen besuchen kommen würden.

Nicht viereckig, sondern in ungewöhnlich runder Form war das Treppenhaus mittig im Gebäude verbaut worden. Einen modernen Aufzug gab es auch. Notwendige Dampfmaschinen für den Apparat waren schon vor Jahren zerstört worden. Es war im Sommer des Jahres 1873, als ein schweres Unwetter die Ufer des Dunkelflusses übertreten hatte lassen.

Komplett überschwemmt wurden die Keller und das Erdgeschoss. Dem nicht genug, brach wenige Wochen danach ein Feuer aus, welches nicht nur durch heftigen Qualm den Rest zerstörte. Dieses war von einem Brandstifter gelegt worden und hatte sich auch in Räume des ersten und zweiten Stocks vorgearbeitet. Man entschied, dass der Schaden zu groß und unrentabel wäre, um wieder instand gesetzt zu werden, aus welchem Grund man das Gebäude wenige Monate später verlassen hatte. Wohl überließ man den Abriss der Zeit selbst, auf dass sie mit unerbittlich nagenden Zähnen den Rest erledigen soll.

Über die Jahre hatte sich Viktor dies zunutze gemacht und an strategisch klugen Plätzen Sprengkörper platziert und Fässer mit hoch explosiven Stoffen deponiert. Neben sicherlich knappen einhundert Fallen in Form von Bärenfallen, Falltüren und versteckten Minen mochte das siebenstöckige Gebäude einer dunklen, finsteren Festung gleichen. Mittig im Treppenhaus befand sich eine armdicke Eisenstange, die an der Decke montiert und im Boden verankert wurde. Einst als Rettungsstange bei ausbrechendem Feuer gedacht, war diese nun auch sein Ziel. Mit Anlauf durchbrach er die morsche Eingangstüre zu seinem Appartement und lief auf das Geländer zu.

Schnell. Die Schergen von Dimagorth waren verdammt schnell. Er hatte damit gerechnet, mit seinen normalen menschlichen Kräften zu langsam zu sein. Daher aktivierte er bereits nach Aufnahme seiner Waffe in Gedanken das zweite Divinus Numen namens Furor, die sich auf seinem rechten Unterarm befand. Verewigt als die Rune ᛝ, verlieh ihm diese göttliche Kraft für wenige Momente die Geschwindigkeit der Raserei selbst, wie es hieß.

Aus dem Schwarz der münzgroßen Tätowierung wurde ein glimmendes Orange, ehe die Rune selbst von einem orangefarbenen Glühen umrandet wurde. Dieses Brennen würde, wie die Wirkung dieser göttlichen Kraft auch, nur wenige Sekunden anhalten. Faust wusste dies, aus welchem Grund er diese Fähigkeit auch gekonnt und strategisch sinnvoll einsetzte.

Noch im selben Atemzug der Aktivierung hatte er seine Utensilien an sich genommen und die Wohnung verlassen. An das Geländer war er rangesprungen, um sich mit beiden Beinen abzustoßen und kopfüber an die Eisenstange ranzuspringen. Erst dann verrauschte die Wirkung des Divinus Numen. Durch die Verschnellerung seiner Wahrnehmung und all seinen Handelns besaß er subjektiv betrachtet mehr Zeit, um zu reagieren und Dinge wahrzunehmen.

Was wie immer in erschreckender Detailgenauigkeit geschah. Noch im Sprung und der Drehung selbst hatte er zwei Granaten vom Gürtel gerissen. Bereits beim Abreißen wurden diese scharfgemacht. Sofort fuhren auch die Zacken aus dem zylinderförmigen Sprengkörper. Er warf sie Richtung der Eingangstüre, die sich gerade wie auf einem gemalten Stillleben in sämtliche Einzelteile zerlegte. Hier flog ein Teil der abgegriffenen Türklinge, dort prasselten Holzsplitter über den Boden, daneben ein Rahmen, in welchem noch zwei Schrauben steckten.

Durch den Splitterhagel kamen bereits zwei der fliegenden, dürren Daemonen, die mit glühenden Augen, dicken Hörnern, scharfen Klauen und spitzen Zähnen sich auf den flüchtenden Faust stürzen wollten. Mit voller Wucht schlugen die Stabgranaten in deren Schädel ein, wo sich die Dornen der Granaten sofort festbissen. Mit lautem Kreischen wurde einer der Daemonen noch im Sturz herumgerissen und gegen den Türstück geschleudert. Der zweite, etwas kleinere Daemon, welcher drei Hörner auf seinem Haupt trug und Feuer spie, wollte sich noch hinwegducken, doch ohne Erfolg. Tief in seinen Wangenknochen gruben sich die Zacken der Stabgranate, rissen ein Teil heraus.

Dann verebbte das Divinus Numen Furor schlagartig und das normale Verhältnis der Geschwindigkeit kehrte zurück. Weitaus härter als gedacht schlug Faust kopfüber gegen die Eisenstange. Sofort umschlang er mit seinen Beinen die Stange, um die Hände frei zu behalten. Die Schwerkraft erledigte den Rest, womit er begann, schnell daran nach unten zu rutschen. Wenig Zeit war noch übrig und er wusste bereits jetzt, dass selbst sein knappes Zeitfenster sich bereits geschlossen hatte und er zu langsam war.
Mit tosendem Krach explodierten die beiden Stabgranaten. Auch wenn man denken mochte, dass es hiermit geschehen war, so wurde man eines Besseren belehrt. Die Hölle brach erst richtig los.

Obwohl er vom Lärm betäubt und vom entstehenden Staub und umherfliegenden Dreck geblendet wurde, riss er seine Waffe aus dem Holster. Durch die entstehende Wolke ergoss sich regelrecht eine Heerschar weiterer Daemonen wie ein Heuschreckenschwarm in das Treppenhaus. Er betätigte noch nicht den Abzug von Baskerville, da in diesem Moment weitere Sprengsätze an der Decke zündeten. Mithilfe von Vincent hatte er Sensoren an die Stange angebracht, die auf Erschütterung reagierten.

Durch den Ruck wurden weitere Sensoren aktiv. Gekoppelt und verbunden mit kilogrammweise Sprengstoff, würden sie im letzten Akt das ganze Gebäude in Schutt und Asche legen. Verständlicherweise hatte Faust nie diesen Ernstfall proben können. Daher hoffte er jetzt inständig, dass ihn seine Berechnungen nicht angelogen und die Ratschläge von Vincent nicht im Stich gelassen haben. Eine Überlebensgarantie gab es ohnehin nicht. War er selbst doch nur wenige Meter von der Druckwelle und dem Schutt entfernt, welcher sich Richtung Boden bahnte.

Immer hatte Faust mit einem Angriff dieser Art gerechnet. Daher wurden auch genau dort die ersten Sprengsätze gezündet, die den ganzen Raum nun mit einem regelrechten Orkan aus Glasscherben und Metallsplittern verwüsteten. Ohrenbetäubend war der Krach, das infernale Getöse immer weiterer Explosionen. Holzbalken zerbarsten, Felsbrocken wurden aus den Wänden herausgesprengt, ein großes Stück der Wand wurde ebenso herausgerissen und stürzten nach unten auf die Straße, wo es zerbarst.

Faust, der beim Sturz nach oben blickte, wurde Zeuge einer Symphonie der Zerstörung. Waffen- und Sprengmeister Vincent hatte wahrlich gute Arbeit geleistet, wie es schien. Als selbst ernannter Komponist totaler Destruktion hatte er mit der bloßen Anordnung von Hunderten Sprengsätzen ein weiteres Meisterwerk erschaffen.

Nachkommende Daemonen wurden durch Splitter und Explosionen in Teile gerissen. Aus dem Arbeitszimmer flogen Gliedmaße, Schwalle von Blut ergossen sich in das Treppenhaus. Einem Daemon gelang es, die Explosionen zu überleben und dem flüchtenden Faust nachzustürzen, doch kam ihm ein Geschoss von Baskerville entgegen. Mit Leichtigkeit durchdrang das Stahlgeschoss den gehörnten Schädel und traf genau in einem solchen Winkel in den Körper ein, dass es die Wirbelsäule der längs nach spaltete und den Körper auseinanderriss.

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Akt IV: Vier

»Ich habe ein schlechtes Leben geführt, mein Freund«, röchelte er Viktor entgegen. »Und egal, welches Dasein mich erwarten mag, es ist zu gut für mich. Die schlimmste Hölle habe ich verdient. So viele. So viele habe ich getötet.« Er weinte, doch wurde die Last auf seinen Schultern und Gewissen dadurch keineswegs leichter. Gar schien ihn dieses Schuldbekenntnis und Einsicht zerdrücken zu wollen.

Faust wollte etwas sagen, doch fand er nicht die richtigen Worte für seinen einzigen Freund, der ihm geblieben war. Er war noch nie gut gut mit Worten gewesen. Schon gar nicht in einer solchen Situation, die ein gewisses Maß an Fürsorge und Taktgefühl bedurft hätte.

»Ich danke dir, Vincent. Für alles.«

»Hör auf, mir für so etwas zu danken. Ich habe einzig Zerstörung und den Tod gesät!«, spuckte er Faust entgegen. Blut quoll aus seinem Mund, doch waren die inneren Verletzungen noch das, worüber er sich die wenigsten Sorgen machen musste. Zahlreiche Brüche, die Splitter und der abgerissene Arm würden schon in den nächsten Momenten seinen finalen Tribut einfordern.

»Man sagt, dass der durch das Schwert stirbt, der durch das Schwert lebt. Kannst du mir bitte die Granate dort neben dir geben?«, deutete er auf ein größeres Exemplar hin. Faust zögerte einen Moment, sah den Freund unsicher an, dann auf die Granate. Er hatte noch nie einen solchen Sprengkörper gesehen und es schien ein Unikat zu sein.

»Es war mir eine große Ehre, Faust. Wir werden uns nicht wieder sehen, aber das ist egal. So wie alles egal ist«, zog er mit letzter Kraft den Splint aus der Granate. Es klickte. »Denn wenn man nur noch zehn Sekunden zu leben hat, ist alles mehr als nur egal«, hauchte er mit seinem letztem Atemzug, ehe die Kraft aus seinem Körper wich und die Granate in seinen Schoß rollte.

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